DIE SACHE MIT DEM KOFFER - 30. August 2020

Eine Freundin von mir war neulich beruflich mit der Bahn von Mailand nach Zürich unterwegs. In ihrer Nähe sassen hauptsächlich Geschäftsleute und eine junge Frau, die vom Alter her auch noch Studentin gewesen sein könnte. Über ihr im Gepäckfach waren ein schwer aussehender Rucksack und zwei gut gefüllte Ikea-Taschen verstaut. Als der Zug in den Hauptbahnhof einfuhr und sie aufstand, sprangen gleich mehrere Männer hinzu und boten ihr an, das Gepäck herunter zu hieven. Keiner schien zu bemerken, dass sich die Freundin ebenfalls mit einem nicht gerade leichten Koffer abmühte. Als sie an den Männern vorbeiging, vier waren es, die sich überfreundlich von der jungen Rothaarigen verabschiedeten, sagte sie: „Es wäre schön gewesen, wenn Sie mir auch geholfen hätten.“ Einer zuckte mit den Schultern, die anderen beachteten sie nicht weiter. Dieser Vorfall hätte ihr gründlich die Laune verdorben und deutlich gemacht, dass jetzt die Zeit beginne, wo man als Frau in die Unsichtbarkeit abgleitet und übersehen wird.

Agieren statt warten
Als sie mir das erzählte, dachte ich mir, wie ich reagiert hätte. Es ist leider eine Tatsache, dass irgendwann – bei manchen früher, bei anderen später – die Blicke der Männer nachlassen, mehr durch einen hindurch gehen als wahrnehmen (manche sind darüber auch erleichtert). Davor ist niemand gefeit, weder Frau Müller aus Kassel-Harleshausen noch die einst für ihre Schönheit gefeierte Schauspielerin aus Silver Lake.
Aber das heisst nicht, dass Frau auch unsichtbar bleiben muss. Ich halte mich da gern an das Mantra der für ihre Schlagfertigkeit bekannten Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Ephron. Das lautete: „Sei die Heldin Deines Lebens, nicht das Opfer.“ Und das muss sich nicht nur auf die grossen Dinge im Leben beziehen.

Charme hilft meistens

Klar, mein Auftreten hängt auch immer von der Tagesverfassung ab. Aber bevor ich lange warte und darauf hoffe, dass irgendjemand mit starken Armen bemerkt, dass auch ich  „ältere Frau“ Hilfe mit dem Gepäck benötige, frage ich, ob der Mann vis à vis vielleicht mal schnell den Koffer hoch- oder runterhieven könnte. Vermutlich ist es auch zu viel erwartet, dass die anderen erahnen, dass ich Unterstützung brauche.
Wenn ich frage, sind stets Charme und Freundlichkeit die Mittel meiner Wahl. Mit der Folge, dass mir in 99 Prozent der Fälle geholfen wird, vom zwanzigjährigen Hipster bis zum siebzigjährigen Grossvater.
Ich kann die Enttäuschung und den Ärger der Freundin verstehen, aber mit Vorwürfen erreicht man nichts. Es mag nach Binsenweisheit klingen, aber es ist nun mal so, dass sich mit einem Löffel Honig mehr Fliegen fangen lassen als mit einem Fass voll Essig.